Zu Pascal Poyets Gedicht ce qu'on en rapporte und seiner Übersetzung
 

"Das, was man davon berichtet": So in etwa müßte man eine Übersetzung von Pascal Poyets langem Gedicht ce qu'on en rapporte betiteln. Das jedoch, was man davon berichten könnte, von unserer Übersetzungsarbeit nämlich, wäre das folgende: An einem Donnerstag um elf Uhr vormittags begannen wir das sechs Seiten lange Poem ins Deutsche zu übertragen, und schon nach wenigen Stunden waren wir fertig - wir hatten kapituliert. Die Summe der in dem Text schlummernden Bedeutungen, die Komplexität und Vielfalt der Bedeutungsanordnungen schienen uns das Gedicht fast unübersetzbar zu machen, in jedem Fall aber die Summe der in uns schlummernden Französischkenntnisse zu übersteigen. Wir hatten ein großartiges Gedicht vor uns liegen, das wir nicht in einer inadäquaten Übersetzung verschwinden lassen wollten.

Was tun? Wir beschlossen, statt einer Übertragung eine Beschreibung zu unternehmen, sozusagen "das, was man davon berichten kann" zu präsentieren. Was dann auf die folgende Umschreibung hinausläuft:

Bei Pascal Poyets Gedicht handelt es sich um einen beinahe mathematisch aufgebauten, sprachspielerisch angelegten und sprachanalytisch fundierten Text von beeindruckender Virtuosität. Inhaltlich kreist des Gedicht um die Motive "Schlaf", "Summe", "Anordnung". Seine poetische Verfahrensweise beruht auf der Verwendung von Wörtern, die ähnliche, aber nicht gleiche Bedeutungen tragen. Die semantischen Ähnlichkeiten der Schlüsselwörter verleihen den Versen Zusammenhalt, die Unterschiede jedoch treiben das Gedicht von Vers zu Vers voran.

Der Schlußvers vereint Motive, Thema und Verfahren noch einmal auf eine beinahe resümierende Weise. Er lautet im Original:

Dormit vient en somme en dispensant de I'ensemble.

Eine Übersetzung könnte lauten:

Schlaf kommt zur Gänze, entzieht man sich dem Ganzen.

Was gar nicht so schlecht klingt - hoffentlich zumindest - aber hochgradig angreifbar ist.

Denn der Vers wird getragen von Bedeutungen, die sich um das Wort somme gruppieren. 

En somme heißt soviel wie "im Grunde, alles in allem", aber das Wort somme verweist auch auf la somme und le somme, also auf "Summe", "Menge" und "Schlummer, Schlaf". Auf diese letzte Bedeutungsmöglichkeit bezieht sich der Versanfang dormir - "schlafen"; auf die vorhergehenden das den Vers beschließende I'ensemble, welches "das Ganze", "die Summe", "die Gesamtheit" meint. Die Wörter dormir und I'ensemble, die keine synonymen Bezüge aufweisen, werden durch die Bedeutungen des Wortes somme hier in eine symmetrische Beziehung gebracht.

Dormir vient en somme en dispensant de I'ensemble.

Diese Symmetrie, hier in einem Vers gewissermaßen "horizontal" dargestellt, durchzieht vertikal, von Vers zu Vers, das ganze Gedicht, sie läßt die Verse ineinander- und zugleich über die Symmetrie hinausgreifen, hin bis zum nächsten Bezug, hin zur nächsten Symmetrie. Um jedoch das Gedicht adäquat ins Deutsche zu übertragen, müßte man Worte finden, die die entsprechenden Mehrfachbedeutungen vereinen - nimmt man das Beispiel des Schlußverses, ein Wort, das sowohl "Schlaf" als auch "alles in allem" meint. Findet man dieses erlösende Wort nicht, kommt es eben zu Übertragungen wie der unseren:

Schlaf kommt zur Gänze, entzieht man sich dem Ganzen.

Sie sehen, das Wort "Schlaf" wird im Deutschen sehr einsam. Dabei macht der Schlußvers deutlich, daß es sich im Falle des Schlafs um das eigentliche Thema des Gedichts handelt, wir erfahren etwas über sein Wesen. Denn alles in allem, so ließe sich paraphrasieren, besteht der Schlaf in dem Absehen von einer Ganzheit, von der der Schlaf selbst nur ein Teil ist, oder aber in dem Absehen von der Ganzheit des Schlafs, der in Wirklichkeit immer nur in den einzelnen Schlafaktivitäten und -phasen zu erleben ist. Doch auch diese Paraphrase greift noch zu kurz; denn dispenser bedeutet nicht nur "von etwas befreien", "ausnehmen", "entbinden" etc., sondern auch "schenken", "gewähren", "spenden" etc.

Zur Dialektik des Schlafs gehört es nicht nur, sich der Ganzheit zu entziehen, sondern sich ihr zugleich auch anheimzugeben - Dinge, die die Sprache schon vor uns wußte, zumindest die französische.

Soviel zu dem, was man davon berichten kann. Und, bevor Sie sich dem Ganzen entziehen, jetzt zurück zu dem, weswegen Sie gekommen sind, zu Pascal Poyet und seiner Poesie. Mirko Bonné wird Ihnen noch einige Strophen zur Verdeutlichung vorstellen, die, wie gesagt, keine exakte Übersetzung des französischen Originals darstellen, sondern vielmehr eine Übersetzung seiner poetischen Verfahrensweise, wie sie oben beschrieben wurde.

Oliver Platz

  
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