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Legenden sind peinlich. Man könnte jaulen. Aaaaiiaaah. Zu dieser Zeit drängten sich bei The End (meinem Lieblingslied von der Lieblingsplatte, das ich immer noch auswendig konnte) schon die Bilder aus dem Vorspann von Coppolas Film Apocalypse Now dazwischen. Der Anflug eines amerikanischen Hubschraubergeschwaders überm vietnamesischen Dschungel, im Teleobjektiv, heiß, flimmernd und nicht enden wollend, bis endlich der Wald in Flammen aufgeht und der Paukenschlag einsetzt: This is the end - my only friend, the end … Und dann Richard Wagner. Es war mein erster Film in Dolby, und ich war gerade nach Hamburg gezogen; weiß der Himmel, woher er meine Adresse hatte.
        Das war nun mindestens vier Adressen her - lange genug. Nur: seit ich am Mittag meine Hamburger Wohnung verlassen hatte, war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich hatte es abgelehnt, mich zum Zug bringen zu lassen, und den Besuch im Schlafzimmer zurückgelassen - nicht nur, weil ich mich in Hamburg, meiner Stadt, lieber jeder fürsorglichen Kontrolle entzog, sondern weil die Reise nicht die geringste Bedeutung bekommen sollte. Als ich den Platz auf der Rückseite des Hauptbahnhofs überquerte, kam mir der Gedanke, ein Bahnhofsabschied hätte mir vielleicht doch gut getan. Allein mit meiner Tasche lief ich auf die Junkies und Penner zu, die wie ein zerfledderter Gürtel den hinteren Teil des Gebäudes umlagern. Tauben flatterten vor meinen Füßen auf. Am U-Bahn-Eingang zerrte eine Magersüchtige am Ärmel eines Bierdosenjünglings und schimpfte heiser; ein Jugendlicher saß in der Hocke an der Rolltreppe, Oberarme auf den Knien, Kopf dazwischen, die aus den Ärmeln seiner kurzen Jeansjacke pendelnden Hände blaugefroren. Ich peilte nach einem Durchgang, als mir ein junger Mann auffiel, der von der Nordseite des Platzes herangekommen war, dunkel, vielleicht ein Türke, und so schlicht und edel gekleidet, als käme er von einem anderen Stern. Helle Baskenmütze, der schwarze Mantel knielang und eng geschnitten, ein Ende des Wollschals über den hochgestellten Kragen zurückgeschwungen. So weich und gemessen wie das Äußere war der Gang. Er war höchstens dreiundzwanzig.
        Der Anblick schmerzte in der Brust, ich atmete tief ein und hielt die Luft an. Richard: genau so war er mir erschienen. Diese schöne Unnahbarkeit. Sie hatte mir das Atmen schwer gemacht. Das war vor Jahrzehnten. In den Jahren danach hatte ich in meiner Vorstellung die Männer, sobald ich sie bewunderte, älter gemacht; wenn dann Nähe die Bewunderung verringerte, schrumpften sie auf ihre wirkliche Bedeutung. Diesmal, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, sah ich, daß nicht nur die Älteren, Reiferen verklärt und fern waren. Dieser Mann, kaum mehr als halb so alt wie ich, war unerreichbar, unberührbar. Keine zwei Meter vor mir kreuzte er meinen Weg. Ich ging weiter, auf Richard zu. Und auf mich, die Kleine, Dumme von früher, der ich nichts verziehen hatte. Noch in der Nacht hatte ich mit meinem Wochenendliebhaber über das Klassentreffen gespottet. Vergeblich: Das spürte ich jetzt, jetzt schon, an der wehen Stelle, die seit damals ununterbrochen atmete - und atmete aus.

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