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Der Stoff ging uns aus. Blieb nur noch der Lippenstift. Gleichzeitig preßten wir die Lippen aufeinander, dann lächelten wir uns diagonal zu, Magenta gegen Bordeaux. Der Kontrast zu den entblößten Zähnen erschreckte mich. Mit dem scharf geschnittenen Mund kam ich mir auf einmal alt vor. Katja sah nicht besser aus. Diese Frau - eine etwas spitzgesichtige, zurechtgemachte Vierzigerin mit solide im Nacken gestutztem Haar - hätte mich: inzwischen ponylos, ausgefranst und leicht eingefallen zwischen Kinn und Wangenknochen, nicht sehen dürfen: Das Bild von Vampiren wirft ein Spiegel nicht zurück … Plötzliches erschöpftes Schweigen. Ich duckte mich weg, setzte mich seufzend auf den Klodeckel und suchte nach einem Trost. Auf jeden Fall, fiel mir ein, wird sich Wilfried auf Gisela freuen. Katja lehnte am Fenstersims. Und Richard! Hast du dich damals nicht für Richard interessiert, aus ganz und gar unerforschlichen Gründen?
        Hatte ich. So sind sie, die ältesten Freundinnen. Erst kontrollieren sie dein Gesicht, und dann halten sie dir vor, wer du einmal gewesen bist. In diesem Moment fühlte ich mich wieder ertappt, und dann, noch während ich Katjas Spott mit Schulterzucken und künstlichem Lachen quittierte, stieg die Wut, sah ich wieder den Spiegel zerspringen wie damals in München. Sie wollte mir also vorführen, warum das alles, die Reise, die Maske.
        Genug. Jedem seine offene Rechnung. Und nicht nur ich hatte mich angemalt. Mein Make-up brauchte keine Begründung, und meine peinlichen Differenzen mit mir selbst würde ich für mich behalten. Sie hatte ja recht, und ich hatte unrecht, wenn ich meinte, Richard vergessen zu haben. Er fiel mir zum Beispiel unausweichlich ein, wenn ich die Doors hörte. Es reichte, daß mir ein Fetzchen ihrer Melodien um die Ohren wehte, und es war wieder damals, als die dunklen Gesänge der Dichterkönige unter unseren Rock-Göttern den Himmel aufrissen, vorweg der gelockte Engel mit den chemischen Flügeln, Jimmy, der es so schön eilig hatte mit dem Sturz, himmelstürmend, himmelschreiend: Father - I want to kill you. Mother - I want to: aaaaaiiiiaaaaaah … und es erschien: Richard. Nicht Norbert, Tobias, Ralf oder einer aus der Nachschulzeit, sondern Richard, der Prototyp aller seiner Nachfolger.
        Er war der stilleumwitterte Stern an einem, nur einem Nachthimmel, in der Niemandszeit zwischen Weihnachten und Silvester. Hochaufragend-in sich gekehrt schlug er in dieser Nacht Schneisen durch die labernde wabernde Sauf- und Kiffgemeinde, den Kopf über dem süßen Dunst in einer anderen Galaxie. Seitdem - als hätten wir nichts als Riders on the Storm und Break on Through oder eben The End gehört vor und nach jener Party, als hätte es nie andere Songs und andere Männer gegeben - katapultierten mich die Doors jedesmal wieder in seine Umlaufbahn. Jahre später schickte er mir eine Urlaubskarte aus Paris, von dort, wo der Rock-Engel hingefallen war. Er schrieb, er sei jedes Jahr einmal dort; die andere Kartenhälfte füllte er mit einer Adresse in Trier, mehr nicht. Trier! Ich schrieb zurück, er, Richard, möge sich beim nächsten Mal auf den Père Lachaise begeben und in meinem Namen ein Zigarettenopfer auf Jim Morrisons Grab legen. Eine Gauloise natürlich, aber eine aus der gelben Packung. Ein Gauloise Maryland! Eine Antwort kam nicht.

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