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IV. Künstliche Religion.

Die Götter sind nicht tot, aber zurechtgestutzt. Im Zuge des Ausdifferenzierungsprozesses der Gesellschaft verlieren die Religionen ihr Weltdeutungsmonopol. "Die ausdifferenzierten Bereiche folgen ihrer jeweils eigenen Logik und entwickeln ihre systemspezifische Rationalität offenbar nur um so effizienter, je weitgehender sie von der Rücksicht auf und von der Sorge um ein übergreifendes Ganzes entlastet sind."* Fragen nach Einheit, Ganzheit und Sinn, einst in der Regel durch eine offizielle, allgemeinverbindliche Religion verwaltet, haben aufgehört, eine objektive, öffentliche Funktion zu haben. Dieser Entwicklung setzten manche Künstler eine "religiöse Aufladung der ästhetischen Sphäre"**, eine Kunstreligion entgegen. Die Erlösungshoffnungen werden in den diesseitigen, innerweltlichen Träger Kunst verlagert. Die Empfindung des Heiligen, nun nicht mehr durch das Medium der traditionellen Religion, sondern durch jenes der Kunst vermittelt, soll die verlorene Einheit, Divinität und Sinnhaftigkeit der Welt wiederherstellen. Die Genies, Autoren und Künstler, übernehmen die Aufgaben der Götter und ihrer Propheten. Naheliegend? Gewiss: Der Schöpfer-Künstler ersetzt den Schöpfer-Gott. Womöglich zu naheliegend:  "Das Heilige (...) verbindet sich mit Phänomenen, die dem Anschein nach nichts mit ihm zu tun haben."*** Die Romantiker, Wagner, der junge Nietzsche, George, Kandinsky, Hugo Ball oder Botho Strauß und viele mehr: Sie alle wetterten und wettern gegen die Technik und ihre entheiligenden Folgen. Der "Ästhetische Fundamentalismus" (Stefan Breuer) setzt aufs falsche Pferd.


* Cornelia Klinger, Flucht Trost Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München/Wien 1995, S. 11.
** Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 3ff.
*** Kamper / Wulf, S. 12.