Horizontale
Schwerkraft
Ein Mann kam ins Zimmer und hängte seinen Mantel an die Wand, obwohl
dort kein Haken war. Wie machen Sie das, fragten die Anwesenden.
Das ist kein besonderes Problem, erwiderte der Mann. Es handelt
sich hier um horizontale Schwerkraft. Der Mantel ist aus der Wolle
von perklastinischen Schnellschafen gewebt. Das perklastinische
Schnellschaf ist eines jener seltenen Wesen, deren molekulare Struktur
anders auf die Massenanziehung reagiert als gewöhnliche Materie.
Was soll das heißen, fragte jemand.
Auf unsereinen, gab der Mann zur Antwort, wirk die Schwerkraft senkrecht.
Wenn unter unseren Füßen der Boden nicht wäre, verlören wir den
Boden unter den Füßen.
Das ist aber eine Tautologie, meldete sich ein anderer Herr, oder
zumindest eine Aussage, die nichts aussagt. Mag sein, entgegnete
der Mann, dessen Mantel an der Wand langsam nach links gewandert
war, dafür wirkt jedoch die Schwerkraft auf das preklastinische
Schnellschaf sozusagen waagerecht. Das preklastinische Schnellschaf
wird nicht zum Erdmittelpunkt gezogen, sondern nach Osten.
Nach Osten? Was wollen Sie damit wieder sagen?
Nach Osten, bestätigte der Mann, in jene Richtung, in die auch die
Erde sich dreht. Das pesklartinische Schnellschaf bewegt sich in
die gleiche Richtung wie die Erde. Wir können daraus folgern, daß
es von derselben Kraft angetrieben wird, die auch die Erde in Drehung
versetzt. Da es sich bei dieser Kraft nur um die Schwerkraft handeln
kann, eine andere ist ja gar nicht da, so folgt daraus wiederum
einwandfrei, daß die Erde selbst auf ihre eigene Gravitation nicht
senkrecht reagiert, sondern im Winkel von neunzig Grad. Also mit
Drehung.
Wir kommen zu dem letzten Schluß, daß das plekrastinische Schnellschaf
aus demselben Material wie die Erde gemacht sein muß, da es in gleicher
Weise auf die Schwerkraft anspricht. Als widerlegt scheint mir dabei
außerdem die alte, immer wieder auftauchende Behauptung, der Mensch
selbst, oder zumindest der Mann, sie aus Erde gemacht. Wäre dies
der Fall, so müssten sämtliche Menschen, oder zumindest sämtliche
Männer, in senkrechter Richtung schwerelos sein, aber unaufhörlich
nach Osten um die Erde rasen.
Da habe ich Sie aber bei einem Denkfehler ertappt, rief jemand.
Wenn ich in meinem Garten ein Apfelbäumchen pflanze und zu diesem
Zweck ein Loch in die oberste Oberflächenschicht grabe, so werfe
ich die hierbei aus der Erde entnommene Erde auf einen immer größer
werdenden Haufen. Diese Erde fliegt nun keineswegs nach Osten um
die Erde, wenn sie verstehen, was ich meine.
Sie und Ihr immer größer werdender Haufen, sagte der Mann.
Das ist aber keine Antwort, mischte eine Frau sich ein. Ich kann
die Erfahrung dieses Herrn bestätigen. Es handelt sich um keinen
Einzellfall.
Na gut, sagte der Mann, sie haben es selbst gesagt, sie kratzen
nur an der obersten Oberflächenschicht herum. Das sind Ablagerungen,
Sedimente von Jahrtausenden, die aus dem Weltraum oder wo auch immer
herkommen. Sobald Sie etwas tiefer graben, werden Sie merken, wie
die Erde sich dort verhält. Sie strebt nach Osten. Südafrikanische
Bergleute berichteten aus 3000 Meter Tiefe - oder Teufe, wie der
Bergmann sagt, wobei ich nicht weiß, ob der südafrikanische Bergmann
ebenfalls Teufe sagt, vielleicht sagt er etwas vergleichbares auf
Englisch oder Zulu - jedenfalls berichteten diese Männer, wie in
3000 Meter Teufe die losgehämmerten Steine schwerelos waren, aber
mit unerhörter Wucht gegen die Wände polterten, und zwar immer gegen
die Wände im Osten. Meine Frau besitzt sogar eine Kette mit einem
südafrikanischen Diamanten, die sie leider nie tragen kann, denn
sobald sie sich nach Osten wendet, gibt es einen Ruck, die Kette
spannt sich, und der Diamant schlägt dem Herrn unters Kinn, dem
sie sich gerade zugewendet hat. Ich gebe zu, daß dieser Umstand
für mich nicht ganz unbedeutend war, als ich die Kette seinerzeit
von einem reisenden Neger -
Seien Sie endlich still, rief jemand. In Windischeschenbach, oder
wie das heißt, hat jemand ein zehn Kilometer tiefes Loch gebohrt,
und nichts ist nach Osten geflogen. Außerdem sagt man nicht Neger.
Man sagt Farbiger. Windischeschenbach oder so ähnlich, sagte der
Mann, meinetwegen, nehmen wir an, daß dort die Sedimente der Jahrtausende
ganz besonders dick herumliegen. Das kann man ja schon aus der Länge
des Namens ermessen. Farbiger ist übrigens ein substantiviertes
Adjektiv und damit ein Substantiv zweiter Klasse. Sie wollen anscheinend
unsere dunkelhäutigen Mitmenschen als Menschen zweiter Klasse denunzieren,
sie Faschist, Sie.
Der Mantel an der Mauer war indessen wieder ein Stück nach links
gerutscht und bewegte sich auf eine Mauerkante zu. Gerade als der
Herr, der das Loch von Windischeschenbach in die Diskussion geworfen
hatte, erregt aufspringen wollte, rutschte der Mantel über die Kante
und flog mit zunehmender Geschwindigkeit quer durch den Saal. Der
erregte Herr sprang auf, der Mantel traf ihn, und mit einem dumpfen
Laut gingen beide zu Boden.
Sehen Sie, sagte der Mann. Das e Schnellschaf bewohnt gebirgige
Regionen und bewegt sich auf genau diese Weise vom Fleck. Es springt
sozusagen von Berghang zu Berghang, wie unsere Gemsen, nur um neunzig
Grad gewendet. Seine Wolle wird geschoren und zu Mänteln verarbeitet,
und sein Fleisch ist schmackhaft, wenn auch nicht ganz einfach zu
essen, wie sich ja denken können. Es gibt da spezielle Teller für
plistanerkischen Schnelllammbraten, die werden am Tisch festgeschraubt
und sehen ganz seltsam aus, vielleicht könne Sie sich das ungefähr
vorstellen -
Wieso ändern Sie denn dauernd den Namen, rief jemand, das hieß doch
vorhin noch ganz anders.
Die Schwerkraft, sagte der Mann, während er quer durch den Raum
zu seinem Mantel ging, der inzwischen an der gegenüberliegenden
Wand hing, die Schwerkraft wirkt auch auf das geschriebene Wort.
Wenn sie in waagerechter Form auftritt, tauschen die Buchstaben
von Zeit zu Zeit die Plätze. Zuhause in meinem Garten habe ich eine
große, mit plastrinekischem Gras bepflanzte Mauer, auf der halte
ich eine Herde von pralstinekischen Schnellschafen, die haben alle
mittlerweile einen völligen Buchstabensalat als Namen.
Er zog seinen Mantel an.
Das ist lächerlich, schrie jetzt jemand. Verschwinden Sie!
Der Mann knöpfte seinen Mantel zu und schulterte den großen Rucksack,
den er mitgebracht hatte. Dann spazierte er die Wand empor, öffnete
ein Fenster und trat hinaus. Seine Schuhe hinterließen dunkle Abdrücke
auf der weißen Tapete.
Mit einem Mal sprangen alle von ihren Sitzen in die Höhe und rannten
ins Freie, um das nun Folgende zu beobachten.
Der Mann ging an der Außenwand des Hauses empor, fünf Stockwerke.
Dann sah er vorsichtig über die Dachrinne auf das flache Dach hinaus
und sprang ins Leere.
Die Abendsonne strahlte ihn von hinten an - aus seiner Sicht allerdings
von oben - als sein Fallschirm sich öffnete und er rasch am östlichen
Horizont verschwand.
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