Frage
Sie
schreiben: "Ich glaube nicht an eine kuenftige Netz-Literatur. Gedichte
werden auch in Zukunft am Schreibtsich gemacht und auf Papier gedruckt
werden." d'accord, wenn es um den momentanen Literaturbegriff mit
all den spezifischen Weisen der Produktion und Distribution geht, die
dieser Literaturbegriff impliziert. NULL kann man ja auch eher als Literatur
im Netz bezeichnen, denn als Internet-Literatur (= ein Begriff, der
keinem von beiden guttut). Die Frage einmal ausgeklammert, was die Verfügbarkeit
von Print-Literatur - dieser Ausdruck ist etwas unglücklich - im
Internet (bzw. auf CD-Rom) für das Rezeptionsverhalten bedeutet,
glauben Sie, daß es eine der Literatur ANALOGE Kunst im Internet
geben kann, die die Print-Literatur zwar nicht ersetzt, sie aber dazu
nötigt, ähnlich zu reagieren, - sich nietzscheanisch zu überwinden
- wie die Malerei auf die Photographie und das Theater auf die Kinematographie
reagieren mußte, wollten sie nicht in eine schiefe Konkurrenzlage
geraten?
Zugespitzt: Glauben Sie, daß ein Autor die sogenannten neuen Medien
ignorieren kann und dabei dennoch Literatur auf der Höhe ihrer
Zeit schreiben kann? und Glauben Sie, daß - unabhängig vom
ökonomischen Aspekt - die sogenannten neuen Medien einen Quantensprung
in den traditionellen - Printmedien - auslösen können?
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Antwort
Literatur
ist nicht dadurch definiert, dass sie auf Papier gedruckt wird. Das Papier
ist blosse Metapher fuer die dauerhafte Konservierung bestimmter Wort-
und Satzfolgen. Der Quantensprung ist derjenige zwischen oraler Tradition
und Literatur, ein weiterer, schon kleinerer, der zwischen Kopistenatelier
und dem Druck mit beweglichen Lettern. Dagegen ist die Frage Papier oder
Silizium nurmehr ein Huepfer - wenn auch ein junger, der naturgemaess
dazu neigt, sich selber zu ueber-, und alles Vorangegangene zu unterschaetzen.
Das Internet wird die Distrbution von Information und auch von Literatur
selbstverstaendlich stark veraendern - siehe amazon.com. Der traditionelle
Buchhandel duerfte in den naechsten Jahrzehnten bis auf Restnischen verschwinden,
die Literatur aber, also die zum Zwecke der Konservierung individuellen
Ausrucks, individueller Erfahrung von einem (selten auch von mehreren
Co-) Autor(en) letztgueltig festgelegte Wort- und Satzfolge wird erst
mit der Menschheit selbst untergehen. Ob diese Folgen, Texte genannt,
dann auf Papier gedruckt werden oder als E-book vermarktet oder von jedem
Verbraucher aus dem Netz heruntergeladen werden ist eine Frage der Distribution,
nicht der Definition. Ich vermute, dass alle genannten Varianten nebeneinander
bestehen werden. Der Gedichtband, der Roman werden als Artefakt aus Papier
ueberleben, das vielbaendige Lexikon oder schwere wissenschaftliche Handbuch
eher als Download oder CD-rom. Ueberall dort, wo es um Aktualitaet und
Aktualisierbarkeit geht wird das Buch (nicht aber Zeitungen und Zeitschriften)
zurueckgedraengt. Literatur aber, im engeren Sinne von Belletristik, will
ja gerade nicht aktualisierbar, sondern autoritaer, also letztgueltig
sein. Hier bietet das Internet, die neuen Medien ueberhaupt, nicht nur
keinen Ersatz, sondern auch noch nicht einmal Konkurenz. Die von
Ihnen in den Analogieen Fotografie-Malerei, Film-Theater angesprochenen
Funktionsverluste haben ja gerade zu einer Belebung und Staerkung der
Altkuenste Malerei und Theater gefuehrt. Nur muss man die Analogie nicht
uebertreiben: Literatur kann die Funktion aktualisierbarer Aktualitaet
gar nicht mehr verlieren, weil sie diese bereits mit dem Beginn der Schriftlichkeit
verloren hat. Und innerhalb der Druckerzeugnisse gab es von allem Anfang
an den Unterschied zwischen den Schriften, also dem Auktorialem oder doch
jedenfalls Autoritaeren, dass so und nicht anders verbreitet und erhalten
werden sollte, und den vergaennglichen Flug-Schriften zum Zwecke aktueller
Information und Propaganda. Ein Funktionsverlust droht oder winkt also
nicht den Romanen und Gedichten, sondern allenfalls den Zeitschriften
und Zeitungen - wobei mein Eindruck ist, dass diese sich im Moment noch
ganz gut behaupten. All dies bedeutet natuerlich nicht, dass ich glaubte,
ein Autor koenne auf der Hoehe der Zeit schreiben, wenn er die neuen Medien
ignoriert. Ein Autor muss seine Zeit zur Kenntnis nehmen, erleiden, kritisieren
und korrigieren, und die Medien sind Teil dieser Zeit, dieser Wirklichkeit.
Nur werden die Ergebnisse dieser Arbeit auch in Zukunft nichts anderes
als Texte sein - deren Verbreitung ist dann nicht mehr sein Problem, sondern
das seines Verlegers. (Wobei sich diese beiden die durch das Obsoletwerden
von Buchhandel und Buchgrosshandel freiwerdenden Prozente vom Buchpreis
sicher gern teilen werden ...) Ob das Netz eine eigene, sprachbasierte
Kunstform hervorbringt, die dann nicht mehr Literatur waere, weil sie
nicht mehr endgueltige Texte hervorbraechte, sondern Stofffelder, Mythenkreise,
die von jedem Teilnehmer ganz wie zu grauen Vorzeiten der oralen Tradition
weiterentwickelt und veraendert wuerden - ja, das weiss ich nicht. Da
lass ich mich ueberraschen. |