Vergessen - zu Recht vergessen - sind solche Anstrengungen heute, nicht nur weil die interaktive Lektüre ermüdend, effektlos und langweilig ausfiel. Vergessen wurden sie vor allem, weil der Literatur mit der Etablierung und Popularisierung des World Wide Web spätestens seit I994 ein Medium zur Verfügung stand, das eine Orientierung an eben jenen Grundsätzen ermöglichte, die Idensen und Krohn bereits fünf Jahre zuvor zur Bedienung ihres PooL-Prozessors definiert hatten. Deshalb war es kein Zufall, dass ausgerechnet Heiko Idensen zur selben Zeit zum gefragten Mann in Sachen Internet-Literatur wurde, eigene Projekte im Netz etablierte und allenthalben einen neuen Hypertext-Utopismus predigte. Er visionierte eine Kultur, die sich dank weltweiter Vernetzung der Versklavung durchs Buch entwunden hatte. Mit dem Internet fielen für Idensen "Lesen (Blättern, Nachschlagen, Querverweisen folgen, Bücher in Beziehung setzen) und Schreiben (Herausgeben und Verlegen) [...] in einem aktiven semiotischen Prozeß intertextueller Generierung von Texten aus Texten zusammen - dem Folgen bzw. Herstellen von Bezügen. Mediale Offenheit und eine tendenziell gleiche Ausstattung bei Lesern und Schreibern schaffen (zumindest technologisch) die Voraussetzungen für radikaldemokratische Produktion und Organisation von Texten: Die Trennung zwischen verschiedenen Texten, unterschiedlichen Diskursen wird durchlässig [...]. Eingreifen des >Lesers< zu jeder Zeit an jeder Stelle. Dadurch verlieren die Texte ihr vermeintliches Bedeutungs- und Machtzentrum. Der Unterschied zwischen Haupttext, Kommentar, Anmerkung verschwindet zugunsten einer Text-Netzwerk-Konzeption." (10)


(10) Heiko Idensen: Hypertext als Utopie. Entwürfe postmoderner Schreibweisen und Kulturtechniken, im Umlauf per EMail, Herbst 1993. Vgl. seinen programmatischen Essay: Schreiben/Lesen als Netzwerk-Aktivität. Die Rache des (Hyper-)Textes an den Bildmedien.
In: Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters, hrsg. von Martin Klepper, Ruth Mayer und Ernst-Peter Schneck, Berlin/New York 1996, S. 81-107.