Die Waise
Alles, was heute Morgen passierte, erschien am frühen Nachmittag
wie aus einem anderen Land oder einer anderen Zeit, der glückliche
Traum eines Unbekannten. Früh aufzustehen, um zur Schule zu
gehen, wie immer unausgeschlafen und mit einem Schulranzen voller
nichtgemachter Hausaufgaben und alter Notizen mit Eselsohren,
und auch die unendliche Langeweile des Unterrichts, und einen
weiteren Tag Susana anzusehen, ihre braun gebrannten Arme, und
sie anzusehen und anzusehen, ohne sich irgendetwas zu erhoffen,
ein trauriger Papierflieger, all das erwies sich am Ende als
die Seligkeit, als das vollkommene Glück, aber das konnte er
damals nicht wissen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er
im Paradies lebte, vielmehr erschien ihm all das eine Scheiße,
die Stulle von gestern, das lustlose Gekicke, die Pickel im
Gesicht, gar nicht mehr wissen,wie man sich noch hinsetzen sollte,
wo zum Teufel die Beine hintun nach fünf Stunden im Klassenzimmer.
Er konnte es nicht wissen, weil sein Vater ihn noch nicht zu
sich gerufen hatte, um ihm zu sagen - mit all der Feinfühligkeit,
zu der ein Bär fähig ist -, dass seine Mutter nur fühlt, wie
jeder Schritt sie erschöpft, dass es aber in Wirklichkeit nämlich
so ist, dass sie im Sterben liegt, und sie - nach Meinung der
ärzte - in wenigen Tagen alleine sein werden. So könnte die
Hölle aussehen, der brutale Schicksalsschlag, der dich plötzlich
dazu zwingt, die qualvollste Gegenwart als süße Vergangenheit
zu betrachten und aufgrund dieses Schwindel erregenden Blickwechsels
zu begreifen, dass ein gescheitertes und hoffnungsloses Leben
der Himmel gewesen war, und er das nicht im Entferntesten vermutet
hatte; und dass es am Gitterzaun Edens, gleich neben der Ausgangstür,
mit seiner Mutter zu Ende geht wie ein Tag zu Ende gehen kann,
verhauchend und ahnungslos.
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