Dennoch verstand ich, warum Katja anstrebte,
was ich hinter mir gelassen hatte: Sie konnte selber erwerben, was
mir die Eltern aufgedrängt hatten. Als Gast in ihrer Münchner
Tiffany-Idylle ließ ich mich gern bekochen, ließ mir
Fotoalben zeigen und reiste dann genauso gern wieder ab, ohne sie
durch Bekenntnisse verwirrt zu haben. Je weiter sich unsere Lebensweisen
auseinander entwickelten, desto weniger beharrte ich auf unseren
Differenzen. Doch war das nicht schon ein Teil der Zugeständnisse,
die das Altern mir aufzwang? Ein zweifelhafter Gewinn an Gelassenheit!
Wofür, zum Beispiel, war ich hier hergekommen, wenn nicht,
um mich aufs nachdrücklichste von den anderen zu unterscheiden,
die so taten, als ob sie mit der Vergangenheit auch die Gegenwart
mit mir teilten? In diesem Pluralhaufen wollte ich als Einzahl bestehen.
Ich zählte die Lippenstifte: drei Stück (mit Katjas Magenta
vier). Ich war über meine Vergangenheit hinaus. Sollte da doch
noch jemand in meine Gegenwart reichen - dann würde ich es
ihm schon zeigen. Für alle Fälle war ein roter Paradiesvogelschnabel
genau das Richtige.
Trotzdem: Je länger
ich aus den Augenwinkeln Katjas nicht etwa ungeübte Verrichtungen
beobachtete, desto eindeutiger wandelte sich meine Skepsis in Vergnügen.
Im Nebenspiegel wurde mir demonstriert, wie man sich mit liebevoller
Hingabe um sich selbst kümmert. Katja wedelte mit dem Pinsel
leicht über die Make-up-Schicht, warf ihn beiseite, beugte
sich vor und fing an, die Brauen nachzuziehen. Ihr schmales Gesicht,
aus dem sie wie immer streng und wach herausschaute, war zu der
ungewöhnlich sorgfältigen Behandlung zu beglückwünschen.
Ich mußte lachen. Und Katja, nicht ahnend, daß meinem
Einverständnis wieder einmal eine Eifersucht vorangegangen
war, deutete mein Lachen als Einverständnis anderer Art, als
Spott: Spott über diese erste gemeinsam vollzogene Erwachsenengesichtspflege
und Spott über den Anlaß: Klassentreffen
Sie lachte
mit. Mit unserem Lachen übertönten wir die Scham.
Wozu so viel Farbe, fragten
wir uns. Welchen Auftritt erwarteten wir? Einen im falschen Film
auf jeden Fall. Noch dazu in einem Film aus den Siebzigern. Für
was? fragte ich. Und für wen? Katja, ungewohnt frivol. Für
Tobias! Sie krümmte sich über dem Porzellan. Ich lachte
los, meine Hand zuckte, und ein alberner Schnörkel kapriolte
mir übers Lid. Während ich mich hauchnah zum Spiegelglas
beugte und ihn vorsichtig ausradierte, überlegte ich, ob ich
nicht sowieso fast alles vergessen hatte. Katja konnte stundenlang
über die Schulzeit reden. Immer wieder regte sie sich auf,
daß wir das konservativste Gymnasium der Stadt besucht und
damit jede Reform verschlafen hatten, und erklärte ausführlich,
warum die Schule, jede, ein lebenslanges Trauma war. Sie sei, meinte
Katja, eine permanente Demütigung: dauernd sei man irgendwelchen
verbeamteten Gutachtern unterstellt, werde überwacht und gegängelt.
Dabei war sie doch immer gut gewesen. Aber kapierst du denn nicht?
Gut oder schlecht, egal! Man ist immer im Nachteil, wenn man ein
Urteil hinnehmen muß, ohne Begründung, einfach so von
oben, immer unterworfen, immer kleingehalten
Ich war froh,
daß Katja diesmal nicht damit anfing.
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