zurück Auszug aus dem Roman

Dorothea Dieckmann
"Damen & Herren"
Roman, Klett-Cotta 2002


20 Personen - 16 Anwesende, 1 Handlanger, 1 Abwesende, 1 Phantom, 1 Tote - verbringen einen Abend. Wenn dieser Roman hielte, was er nicht verspricht,
hätte es am Ende so aussehen können:


Jeder hätte seine Geschichte bekommen, jeder hätte sich wiedererkannt. Dagmar hätte nicht geweint, sondern Familienfotos gezeigt, Kinderfotos, Urlaubsfotos, ein ganzes Spießerleben in Kodacolor. Bine dagegen hätte ein scharfes Bild abgegeben, Schlampe! Blondine!, und wäre über ihr kaputtes Leben in Tränen ausgebrochen. Katja hätte aufgeräumt; sie hätte Helga interviewt, Renate aufgehetzt, Achim geohrfeigt und Tobias zum letzten Mal geküßt. Renate hätte einmal, einmal wenigstens gelacht, und zwar rauh und tief, ja mehr: Sie hätte mir die Hand auf die Rippen gelegt und gestanden, daß sie schon immer verrückt nach meinem herben, mageren Körper war, genau dies. Ja, alles wäre anders gewesen. Hotschi und Matze hätten sich geschlagen wie richtige Männer und dann zusammen die Friedenspfeife geraucht, mehr noch: zünftig gekokst, high sein, frei sein, hätten das alte Lied vom Terror muß dabeisein intoniert und einander auf die Schulter geklopft: Alter Junge! Alle hätten Helga zu Füßen gelegen, zerflossen in Selbsterkenntnis. Ihre Rede wäre ein Tribunal gewesen, Erdmutes Selbstmord ein Mord. Achim hätte im besten Zwielicht dagestanden, einsam grinsend, den Dolch im Gewand, Schaum vorm Mund. Ina wäre nicht aus Freiburg angereist, sondern aus New York oder Boston oder Princeton, sie wäre unsere VIP gewesen, Professorin, Feministin, Journalistin, schick, leuchtend und gebrochen. Nach einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr hätte Wilfried der verzweifelten Gisela einen Heiratsantrag gemacht. Gisela hätte ein rotes Kleid getragen und nein gesagt. Petzi wäre bis zum Ende geblieben und hätte mir die Rechnung aufgemacht, Benachteiligung und frühes Leid, und ich hätte meine Prinzessinnenherkunft verflucht, durch die meine erste Freundin zum Aschenputtel erniedrigt wurde. Walter wäre Amok gelaufen. Richard und ich, wir hätten uns lange flüsternd unterhalten, nicht mehr und nicht weniger, ein verhohlener Schluchzer vielleicht, und zum Schluß hätte er seine Hand auf meine gelegt und geraunt: Unser Leben wäre anders verlaufen. Natürlich wäre der Kassettenrecorder dagewesen, ach was, Kassetten! Peter hätte Platten aufgelegt und nicht Peter, sondern Patrick geheißen. Wie neonfarbene Flüssigkeiten hätte ein Popsong nach dem anderen unsere Worte und Bewegungen in melacholischen Wellen gelöst. Und meine Gedichte - meine Gedichte hätten sich als knisternder Märchenschnee über die Versammlung gebreitet und alle stumm gemacht.

aus: Retusche (Epilog)

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